... was du nicht siehst

Das Motto der sechsten artionale enthält zwei Themen: das Unsichtbare und den je individuellen Zugang zur Kunst. Das Unsichtbare, zumal das Unsichtbare, das jedenfalls partiell dann doch sichtbar ist, hat seit alters her seine eigene Faszination: Vom Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht über das zwischen den Zeilen lesen bis hin zu dem, was unter dem Gegenteil seiner selbst verborgen ist – „Ich sehe was, was Du nicht siehst!“

Es ist immer ein einzelnes Individuum, das sieht oder eben nicht sieht. Sehen, wahrnehmen, sich beziehen auf – wie auch immer – ist die mentale Funktion einer menschlichen Subjektivität. Diese Funktion ist das alleinige Konstruktionsprinzip der ästhetischen Erfahrung. Gerade dieses das einer oder einem sich etwas erschließt, was anderen verborgen bleibt, unterstreicht den reflexiven Akt der Rezipientin, des Rezipienten, eben der Betrachter, der Kunstgenießenden.

Und das es in dem einen Fall zu jenen Reflektionen kommt, im anderen jemand unberührt bleibt, verweist auf die Möglichkeit oder sogar die Notwendigkeit zur Kommunikation, zum Intersubjektivitätsgeschehen. Denn auch das könnte ja in Bewegung kommen, dass ein Austausch darüber stattfindet, was gesehen wird und was nicht.

Vor vielen Jahrhunderten war das Bilderverbot in der Religion ein wichtiges Thema. Das Heilige sei nicht darstellbar, anders würde es sich nicht um das Heilige handeln. Bis heute ist jener Einsicht ein gewisses Recht zuzugestehen.

Weiterhin gilt, dass gerade die religiösen Erfahrungen sich durch individuelle Exklusivität auszeichnen, wie kaum andere Erfahrungen. Was der einen einleuchtet lässt den anderen unberührt. Sind Kunst und Religion auch in dieser Hinsicht wie zwei Geschwister, die noch viel zu wenig voneinander wissen? Gilt für beide in besonderem Maße „.... was Du nicht siehst“? Auch wenn dies bejaht wird, wird man für die religiöse Erfahrung mit dem Bilderverbot darauf verweisen müssen, dass alle Erkenntnis in diesem Umfeld immer im Vorläufigen bleibt. Für die religiöse Erfahrung bleibt es dem Ende, das letztlich als Anfang verstanden wird, vorbehalten, dass wir sehen werden, was kein Auge je gesehen hat und dass wir hören werden, was kein Ohr je gehört hat. „... was Du nicht siehst“ verspricht jedenfalls spannende Erkundungen!

Gerson Raabe